Ich hab versprochen, was zum Thema „Invasive Neophyten“ zu schreiben. Hatte ich schon lange vor, aber immer geschoben, weil: boah – wie mich dieser Begriff triggert!

Dabei bin ich keine „Invasive Neophyten-Leugnerin“, die Warnungen vor japanischem Staudenknöterich als Verschwörungstheorie einheimischer Staudengärtner sieht. Was mich so triggert, ist, dass gefühlt sehr viele Menschen, die diesen Begriff verwenden, offensichtlich nie nachgeschlagen haben, was er überhaupt bedeutet. Da kommen dann so Facebook-Posts zustande wie „Ich hab echtes Leinkraut gepflanzt und freu mich voll, dass es so gut gedeiht. Bald blüht es.“ – Und darauf kommt dann: „Rausreißen. Das Zeug ist die Pest. Absolut invasiver Neophyt, kriegst du nie wieder los. Macht alles andere kaputt.“

Allein schon diese Fascho-Sprech-Kriegsterminologie für sich regt mich auf. (Das echte Leinkraut ist übrigens weder invasiv, noch ein Neophyt.) Und das häufige Gleichsetzen von Neophyten mit invasiven Pflanzen ist auch schlicht falsch. Passiert aber leider immer wieder. Da wird dann alles als invasiv bezeichnet, was einfach nur konkurrenzstark ist und sich möglicherweise auch deshalb durchsetzt, weil es optimale Bedingungen vorfindet und mit Pflanzen vergesellschaftet wurde, die den Standort nicht so gut nutzen können. Das liegt dann nicht an der Invasivität – sondern am Gärtner.

Und nein, nicht alle Neophyten sind invasiv. Es ist also durchaus OK, auch nicht heimische Pflanzen im Garten zu haben. Beispiele gefällig? Kartoffeln, Mais, Bohnen, Tomaten, Paprika, Chilies, Sonnenblumen,…

Schreiten wir mal zur Begriffsklärung. Was ist ein Neophyt?

Wörtlich übersetzt heißt es „neue Pflanze“ und als neue Pflanze wird, einfach per Festlegung in der Wissenschaft, um einen gemeinsamen eineindeutigen Begriff zu haben, jede Pflanze bezeichnet, die vor der Entdeckung Amerikas durch Kolumbus nicht hier heimisch war und erst durch die Seefahrer hier eingeführt wurde.

Das war 1492!

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Nochmal: alles was in den letzten 532 Jahren hier an Pflanzen auftauchte, sind Neophyten! Sehr viel von dem, was täglich auf unseren Tellern liegt, sind Neophyten. Sie sind also nicht per se schlecht.

Unsere „heimischen“ Pflaumen und Kirschen kommen übrigens auch nicht von hier. Sind aber keine Neophyten. Die kamen schon mit den Römern hierher. Gibt’s bestimmt auch ein Fachwort dafür.

Und was heißt jetzt invasiv?

Eine Pflanze gilt dann als invasiv, wenn sie sich stark UND zum Nachteil einheimischer Arten ausbreitet. Also – Ausbreitungskraft alleine ist noch nicht negativ. Nur in Kombination mit der Verdrängung einheimischer Pflanzen gilt ein Neophyt als potentiell invasiv oder invasiv. Diese Verdrängung kann auf verschiedene Weise passieren. Die Robinie z.B. reichert den Boden mit Stickstoff an und macht damit ihr Umfeld für Pflanzen, die auf magere Böden angewiesen sind, mit der Zeit unbewohnbar. Das Drüsige Springkraut dagegen verändert nicht die Nährstoffzusammensetzung im Boden, macht aber so viel Fläche dicht und ist so groß und kräftig, dass einheimische Arten, die bisher an diesem Standort vertreten waren, einfach nicht mehr durchkommen. Dazu kommt noch, dass sich fremde und einheimische Arten kreuzen können und so neue Arten entstehen, mit noch gar nicht absehbaren Konsequenzen für das Ökosystem.

Ganz häufig lese ich in Gartengruppen, insbesondere denen, die sich dem naturnahen Gärtnern widmen „Ja, aber die Pflanze ist als invasiver Neophyt gelistet“. Und auf Nachfrage werden dann irgendwelche Blogs als Beleg genannt – die dann aber keine Quelle nennen sondern einfach die Behauptung aufstellen, dass das so ist. Aber Leute: Quellen, das sind Veröffentlichungen, die man wirklich bis zum Ursprung einer Aussage nachvollziehen kann, also so, dass man versteht, wie (!) jemand zu der Aussage kam. Nicht einfach eine Behauptung, die jemand in den Raum stellt und die immer weiter zitiert wird.

Ich habe mich jedenfalls auf die Suche nach DER Liste gemacht. Wo finde ich die? Wer hat die zusammengestellt? Nach welchen Methoden? Mit welchem Ergebnis? Und welche Pflanzen sind wirklich als invasive Neophyten gelistet?

Es hat mich wirklich mehrere Anläufe und Stunden gekostet, bis ich dann bei naturadb.de den Link zu dieser Liste fand: https://www.bfn.de/…/Dokumente/skripten/skript352.pdf

Es handelt sich dabei ein Dokument, das vom Bundesamt für Naturschutz in Deutschland gemeinsam mit dem Umweltbundesamt, Österreich erstellt wurde. Das Dokument wurde 2013 veröffentlicht. Wenn man weiß, wie reguliert Abstimmung in der öffentlichen Verwaltung ist und wie zeitaufwändig so ein Bewertungsprojekt auch dadurch wird, ist klar, dass daran mehrere Jahre gearbeitet wurde, bis es in Druck ging.

Das Dokument enthält 204 Seiten. Ich bezweifle, dass viele derer, die sich auf „die Liste“ berufen, das Dokument gelesen haben bzw. dass sie es überhaupt kennen. Der Text ist eine wissenschaftliche Abhandlung, mit entsprechenden Fachtermini, statistischen Angaben und grafischen Darstellungen – die für den Laien, also für die allermeisten Menschen, nicht einfach zu verstehen und mangels Ausbildung in wissenschaftlicher Methodenlehre auch nicht fehlerfrei zu interpretieren sind.

Ich versuche eine Zusammenfassung.

Es gibt in Deutschland ca. 3400 einheimische bzw. alteingebürgerte Arten (vor 1492) sowie ca. 430 nach der Entdeckung Amerikas eingeführte gebietsfremde Gefäßpflanzen (Neophyten), die sich hier etabliert haben. Dazu kommen nochmals ca. 2000 gebietsfremde Arten, die hier und da auftreten, sich jedoch nicht dauerhaft etabliert haben. Von diesen ca. 2400 Neophyten, etabliert oder noch nicht, wurden 38 als invasiv und 42 als potenziell invasiv identifiziert. Zehn dieser insgesamt 80 Pflanzenarten sollen mit hoher Priorität und Sofortmaßnahmen bekämpft werden (Aktionsliste). Diese 10 kommen bisher nur kleinräumig vor.

Dass nicht diejenigen hoch priorisiert wurden, die bereits großräumig vorkommen, erklärt sich damit, dass „der Zug bereits abgefahren“ ist. Die kann man nicht mehr ausmerzen, da kann man nur noch Schadensbegrenzung betreiben (Managementliste). Siehe bzw. höre dazu das Interview mit Dr. Nehringer, einem der Autoren der Liste. https://www.mdr.de/mdr-garten/podcast/audio-invasive-pflanzen-100.html

Dazu kommen zusätzlich noch 10 Pflanzenarten, deren Invasivität belegt ist, die aber bei uns noch nicht vorkommen. (Warnliste). Sie wurden, da sie (noch) nicht vorhanden sind, nicht weiter in die Auswertung einbezogen.

Diese drei Listenteile bilden zusammen die „Schwarze Liste“, die Liste der invasiven Neophyten – 38 Arten insgesamt stehen darauf.

Nachgeordnet gibt es noch die „Graue Liste, die aus Handlungsliste und Beobachtungsliste besteht. Darauf stehen 42 Arten, die als „potentiell invasiven Neophyten“ eingestuft wurden.

Es wurden nur diese 80 Pflanzen betrachtet. Und das erklärt sich damit, dass so eine Betrachtung zeitaufwändig ist, (Steuer-)geld kostet und extrem viele Einflussfaktoren gar nicht bekannt sind. Man hat sich also auf die Arten beschränkt, für die eindeutige Hinweise auf Invasivität vorhanden waren und die deshalb am dringlichsten zu betrachten schienen. Das Titelbild dieses Beitrags zeigt zur Verdeutlichung ein Screenshot aus dem Dokument (es ist öffentlich zugänglich, die Abbildung ist auf S. 10, also gehe ich davon aus, dass ich es hier auch verwenden darf).

Bewertet wurde übrigens nicht per Feldforschung, was man sich als Laie ja so vorstellt. Dass da Biologen in Khaki durch die Natur pirschen, katalogisieren, zählen, Proben nehmen… Nein: bewertet wurde anhand von Literaturrecherchen und Experteneinschätzung.

Literaturrecherche bedeutet, bereits existierende Texte zu bestimmten Pflanzen werden zusammengetragen und dann inhaltsanalytisch, quantitativ und/oder qualitativ mit vorher festgelegten Kriterien und Kategorien ausgewertet. Viele Quellen zusammen ergeben so einen erkennbaren Trend.

Experteneinschätzung bedeutet, dass Experten befragt. Die Experten konnten die Pflanzen anhand einer Liste in 5 verschiedene, genau beschriebene Stufen einordnen (das nennt sich strukturierte Befragung). Auch da ergibt sich dann, über die Experten hinweg, ein Trend, eine mittlere Einschätzung sozusagen, die sich der Realität annähert.

Beachtenswert finde ich folgende Hinweise in der Studie: In botanischen Gärten in Deutschland leben ca. 50000 (!) Pflanzenarten, von denen die meisten gebietsfremd sind. In Gärten und Parks wachsen allein über 3000 gebietsfremde Gehölzarten und zudem werden viele gebietsfremde Arten in Gartenbau, Land- und Forstwirtschaft verwendet. Das ist also ein Vielfaches (fast das 15fache) an fremden gegenüber einheimischen Pflanzen. Die meisten dieser Arten können in der freien Natur aber nicht überleben.

Deshalb wird darauf hingewiesen, dass Maßnahmen gegen gebietsfremde Arten nicht auf Pauschalurteilen beruhen dürfen (Neophyt = schlecht = weg damit!). Vielmehr muss die Entscheidung vorsorgliche Einfuhr- und Pflanzverbote auszusprechen, die Bestände zu kontrollieren und zu begrenzen oder tatsächlich die gezielte Beseitigung nur auf Basis sorgfältiger Bewertungen jedes Einzelfalles (!) getroffen werden.

Zusammengefasst

Auf der Schwarzen Liste stehen Neophyten, deren Invasivität belegt ist.

  • Auf der Warnliste (Bestandteil der Schwarzen Liste) stehen 10 Pflanzenarten, die noch gar nicht vorhanden sind, die aber invasiv wären, würden sie vorkommen.
  • Auf der Aktionsliste (Bestandteil der Schwarzen Liste) stehen invasive Neophyten, die bisher nur kleinräumig vorkommen, so dass noch die Möglichkeit besteht, diese Arten auszumerzen oder zumindest ihre Ausbreitung zu begrenzen.
  • Auf der Managementliste (Bestandteil der Schwarzen Liste) stehen invasive Neophyten, die entweder zwar erst kleinräumig vorhanden sind, für die es aber keine wirksamen Beseitigungsmöglichkeiten gibt, oder solche, die sich bereits so großräumig ausgebreitet haben, sie nicht mehr eliminiert werden können und nur noch ihre weitere Ausbreitung verhindert werden kann.

Auf der Grauen Liste stehen potentiell invasive Neophyten. Für diese Arten gibt es begründete Annahmen dafür, dass sie invasiv sind, jedoch noch keine Belege. Der Wissensstand reicht noch nicht aus, um Maßnahmen gegen diese Arte zu beschließen.

  • Die Handlungsliste (Bestandteil der Grauen Liste) enthält Arten, für die es begründete Annahmen gibt, dass sie einheimische Arten entweder direkt verdrängen oder deren Lebensraum so verändern, dass sie keine guten Bedingungen mehr vorfinden (siehe Robinienbeispiel).
  • Die Beobachtungsliste (Bestandteil der Grauen Liste) enthält ebenfalls Arten, die einheimische Arten direkt verdrängen oder durch Veränderung des Lebensraum diese verdrängen, jedoch gibt es dafür noch keine begründete Annahmen, sondern nur erste Hinweise.

(Die Unterscheidung zwischen begründeter Annahme und ersten Hinweisen ist übrigens ein schönes Beispiel dafür, wie sehr sich Alltagssprech und Wissenschaftssprech unterscheiden – Wissenschaftssprech ist trennscharf!)

Die Aktualisierung der Liste geht schleppend voran. Zuletzt wurde eine Aktualisierung 2022 veröffentlicht (https://bfn.bsz-bw.de/frontdoor/deliver/index/docId/1133/file/Schrift654.pdf)– es haben seit 2013 drei (3!) bereits vorhandene Pflanzenarten und zwei (2!) noch nicht vorhandene Pflanzenarten Einzug gefunden.

In der Schweiz gibt es ähnliche Listen. https://www.infoflora.ch/de/neophyten/neophyten.html Dort  geht man (Stand 2021) von insgesamt 4000 Wildpflanzenarten in der Schweiz aus, von denen ca. 750 Neophyten sind. 88 davon – also 8 mehr als bei uns – werden als invasiv eingestuft.

Sooo – das ist ein langer Beitrag, für den ich viel Zeit investiert habe, weil mir das Thema „Wissenschaft nicht nur zitieren, sondern verstehen“ echt wichtig ist. Das soll kein Plädoyer für Neophyten sein. Aber ein Plädoyer dafür, sich eine fundierte Meinung zu bilden, nicht nur eine Meinung, die auf Annahmen und Ahnungen beruht.

Ich habe mich durch die ersten 40 Seiten der Liste durchgeackert und sie hier zusammengefasst, auch um endlich eine fundierte Gesprächsbasis zu haben, wenn mal wieder jemand mit dem Begriff „Invasiver Neophyt“ um sich wirft, ohne zu wissen, was das ist. Hier kann man nochmals, noch kürzer nachlesen: https://neobiota.bfn.de/invasivitaetsbewertung/methodik.html und https://neobiota.bfn.de/invasivitaetsbewertung/gefaesspflanzen.html

Falls du bis hier gelesen hast – lass mir gern einen Kommentar da, was deine Gedanken zur Liste sind, wie du ihre Bedeutsamkeit einschätzt, wie du mit Neophyten allgemein und mit den invasiven insbesondere umgehst…

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